woensdag 8 april 2015

Sibylle Berg: Hauptsache weit (2001)


Das ist wie der Junge sich die Reise ausgedacht hat: drei Monate mit 1000 Dollar durch Thailand, Indien, Kambodscha, etwas erleben, viele tolle Leute kennen lernen, entspannt mit Wasserbüffeln spielen, in Straßencafés sitzen. Und einfach cool sein. Aber warum kommt den der Spaß nicht? Warum sehnt er sich nach Klatschgeschichten über einheimische Prominente und Fernsehstars aus dem eigenen Land? Er ist nur glücklich, am Leben sogar, wenn er im Internetcafé seine Mails lesen und schreiben kann.

Diese ist wohl die einzige Kurzgeschichte, die ich hier besprechen muss, die keinen Ich-Erzähler hat, sondern einen auktorialen Er-Erzähler. Die Leser erfahren nämlich nicht nur die Ereignissen, aber auch die Emotionen des Jungens. Der Erzähler macht sich zwar kaum bemerkbar und man könnte also behaupten, dass er eher ein personaler Erzähler sei; Kommunikation mit den Lesern gibt es eigentlich nicht richtig. Trotzdem finde ich ihn hauptsachlich allwissend. Das zeigt sich auch aus dem Titel 'Hauptsache weit': offensichtlich weiß der Erzähler genau was die Motivation von dem Jungen war eine Reise zu machen.

Selim Özdogan: Marita (2003)

"Marita, in diesen Tagen fühle ich mich manchmal sehr jung, als hätte ich noch nichts erlebt und nichts gelernt. Und manchmal fühle ich mich sehr alt, als hätte ich alles schon gesehen und es wäre alles dasselbe."
Man kann also sagen, dass der Ich-Erzähler nicht wirklich ein Jung-Erwachsene ist, aber auch noch nicht gerade mittleren Alters. Auch die beschriebene Handlungen passen eher jemandem von etwa 30 Jahre alt. Aber wie das Geschlecht des Erzählers bleibt auch das Alter undeutlich. Das ist meiner Meinung nach allerdings der Charme der Geschichte: sie ist dadurch universell. Fast jeder ist mal von einem Geliebtem oder einer Geliebter verlassen worden und kann sich also mit dem Erzähler und seinen Emotionen identifizieren. Ich glaube, es ist auch gerade deswegen, dass Marita ihren neuen Liebe irgendwo treffen können hätte; es war nur zufälligerweise in der Bismarckstraße, bei dem gelben Haus.



"Es hätte überall passieren können, das gelbe Haus in der Bismarckstraße
war nicht besser oder schlechter als ein anderen Ort."

Was man sonnst noch zum Zeitpunkt oder Zeitraum sagen kann, ist dass sie genau so generell sind als die Stelle, an der Marita und der neue Freund sich zum ersten Mal getroffen haben. Es gibt fast keine Hinweise nach einer bestimmten historischen Zeit oder sogar Jahreszeit. Trotzdem ist Zeit für den Ich-Erzähler einigermaßen wichtig; er will nicht für immer trauern: 'Eine Weile noch, eine Weile noch werde ich so leben, bis ich eines Tages den Fernseher wieder runterbringe. Eine Weile noch, zwei Wochen, drei, vier, fünf'.

maandag 6 april 2015

Milena Moser: Der Hund hinkt (1998)

Die Kurzgeschichte von Milena Moser eignet sich sehr gut für eine Analyse der Figuren und ihre Charakterisierung. Jeden Sonntagmorgen macht die Familie einen Spaziergang; immer mit demselben Ziel: ein Besuch an Rob und dann das Essen im Landgasthof; jedes Mal in der gleiche Reihenfolge: die Mutter geht voran, das Kinn hoch, danach der Hund und der Vater, beide hinkend, und schließlich der Ich-Erzähler, ein Mädchen von etwa 14-15 Jahre alt, den Blick auf den Boden. Trotzdem ist sie in der Lage ihre Familie scharfsinnig zu observieren. Eigentlich macht sie also was ich auch für diese Rezension machen soll.


Der Ich-Erzähler findet sich groß und dick und überall im Weg. Als ob sie am liebsten unsichtbar wäre, lässt sie sich die Haare vorne über die Augen wachsen. Sie möchte abnehmen und dazu einen Sauna-Anzug bestellen, hat aber Angst dass ihr auch die Brüste wegschmelzen. Der Hund ist auch nicht gerade perfekt: er hinkt. Er wurde von einem Auto überfahren und hat seitdem ein Krummes Bein. Der Vater hinkt auch. Er wurde nach einem Bänderriss viermal operiert, hat aber viel zu schnell wieder angefangen zu arbeiten und heute ist ihm das Gelenk steif geblieben, aber seiner Meinung nach gefällt so eine Schwachstelle an einem starken Mann den Frauen. Die Mutter findet das nur mäßig lustig. Die Frau ist das Produkt harter Arbeit und Mühe: sie hat getönte Haare, ein geschmincktes Gesicht, eine geturnte Figur, nur frisch gebügelte Wäsche. Während des Spazierganges hat sie in der Jackentasche ein ebenso frisch gebügeltes Taschentuch, Hundekuchen, Lippenstift und Kleingeld; sie hat vor alles vorgesorgt.

Der Hund muss raus, das Mädchen muss raus, weil die beide frische Luft brauchen. Auch der Vater braucht Luft; er arbeitet nämlich jeden Tag von früh bis spät, und wann sonnst würde er seine Tochter mal sehen? Und sie alle Rob wenn nicht beim Spaziergang? Alles ist in Ordnung, alles ist sauber, alles ist vorgeplant. Nichts kann passieren.
Am Ende der Geschichte zeigt es sich aber dass schon was passiert ist, dass nicht alles in Ordnung ist, dass man nicht alles vorplanen kann. Die Mutter hat eine scharfe Falte zwischen den Brauen, ihr Rücken, ihr Nacken und ihre Frisur verraten Wut. Die Familie arriviert bei einem Friedhof. Da besucht sie Rob, mit zehn Jahre gestorben vor Krebs. Ist die Mutter wütend auf den Sohn? Nein, sie ist böse auf den Vater: den Hund hat er schon gerettet, dafür hat er Zeit gehabt.
Der Landgasthof hat Betriebsferien, das hat die Mutter auch nicht gewusst, das war auch nicht vorgeplant. Dann rennt der Hund auf die große Straße zu, was alle ablenkt. Damit ist der Spaziergang zu Ende.

zondag 5 april 2015

Judith Hermann: Zigaretten (2001)

"Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette."

Dieser Satz schien mir passend zur Kurzgeschichte von Judith Hermann. Sie ist "eine kleine Geschichte, beiläufig erzählt, unspektakulär", fast wie man ohne nachzudenken eine Zigarette raucht. Erzählt wird sie von dem Mann, der seine Freundin verlasst, aber nicht den Eindruck erwecken will ihr zu entfliehen. Es folgt eine Geschichte über den Mann und seine Freundin Constanze, als er etwa zwanzig Jahre alt war. Bevor Constanze musste nach Hause fahren, von Berlin nach Frankfurt Oder, aber vorher haben sie sich getroffen im Park hinter dem Alexanderplatz. "Sie haben sich nichts gestanden und nichts versprochen, sie haben nicht gezweifelt und nicht gestritten, sie waren ganz heil und einfach miteinander". Als sie später am Bahnhof noch eine letzte Zigaretten rauchen wollten, stellte sich heraus, dass sie die Packung liegen lassen hatten auf der Bank im Park. Der Mann fuhr also zurück zum Alexanderplatz und fand an dem Rand der leeren Bank die Zigaretten wieder. Er steckte die Packung in die Hosentasche und ging nach Hause.


"Ich glaube, er sagte, es sei heiß gewesen, Sommer, sie saßen auf einer dieser Bänke, eine Stunde lang, zwei."

Ich werde mich in dieser Rezension konzentrieren auf die Zeitstruktur und die Erzählerrede. Sofort am Anfang ist deutlich dass beide für diese Kurzgeschichte wichtig sind.
Es gibt einen Ich-Erzähler, eine erwachsene Frau, die von ihrem Freund verlassen wird. Sie erinnert sich an diesen Moment und an die Geschichte, die der Mann damals erzählt hat. Es ist aber die Frau, die uns diese Erinnerung erzählt, nicht der Mann selbst, und sie ist daher von ihren eigenen Emotionen geprägt. Am wichtigsten ist die Eifersucht: die Frau ist eifersüchtig auf die Einfachheit dieser kurzen Geschichte, und auf die Zeit, in der sie den Mann noch nicht kannte. Sie ist eifersüchtig auf das Damals, auf die Vergangenheit, als er und Constanze noch unbewusst, unverletzt waren, und als die andere Zeit, die der Verletzungen, der Trauer, des Verrates und der Müdigkeit, noch nicht einmal vorstellbar war.
Da wir in der kleinen Geschichte des Mannes auch die Emotionen und Kommentaren des Ich-Erzählers erfahren (sogenannte Zeitpausen), entsteht Zeitdehnung. Zeitraffung und Zeitsprünge kommen aber auch vor, zum Beispiel wenn die Frau erzählt wie sich ihr Freund und Constanze getrennt haben, und wenn sie sich an ihre Kindheit erinnert und wie sie damals Eifersucht interpretiert hat.

donderdag 19 februari 2015

Jakob Hein: Nu werdense nich noch frech (2001)

Die erste Kurzgeschichte, die ich hier besprechen möchte, ist zwar kurz und vielleicht daher schon ihre Gattung wert, aber ist sie nicht eher eine Anekdote?

Hein beschreibt wie der Ich damals seinen Personalausweis überreicht bekommen hat. Obwohl sein Leben als Schüler ihm immer mehr 'wie ein aussichtsloses Rennen nach einem Platz voller Bedeutung' erscheint, besteht es aus offizieller DDR-Sicht aus lauter Fortschritt. Die Überreichung des Personalausweis gehört selbstverständlich auch dazu. Das festliche Ritual wird aber so gestaltet, dass von einem Fest kaum der Rede ist: die Disko fängt schon um drei Uhr an, es sind keine richtige Freunden da, einen Komiker, der kein richtiger Komiker ist, gibt es aber schon, die DDR-Rocksongs kennt keiner, weil alle Westradio hören, und wer seinen Ausweis bekommen hat, haut sofort wieder ab.

So wie der Ich von diesem neuen Lebensabschnitt nicht besonders beeindruckt ist, ist er es auch nicht von der Überprüfungen von seinem Ausweis. Die sind andauernd, aber auch ohne konkrete Konsequenz. Und daher sieht er seinen Ausweis eher als Kommunikationsmittel mit der Volkspolizei. Jedes Gespräch, in dem der 'unsozialistisch aussehender' Ich dem Polizisten aus der DDR-Verfassung zitiert und ihn in Widersprüche verstrickt, endet aber mit dem 'überzeugenden' Satz "Nu werdende nich noch frech!".

Die kurze und pointierte Art der Geschichte und die Weise, in der das Wesen der Volkspolizei an einem scheinbar zufälligen Detail deutlich wird (die Pointe, eine überraschende Wendung) weisen darauf hin dass es sich hier auch um eine Anekdote handeln könnte. Es geht hier weniger um eine objektive, historische Darstellung; es wird ein repräsentatives Moment gezeigt. Daher würde ich diese Geschichte eher als Anekdote kennzeichnen.




Ausweisskontrolle und Überprüfung der Personalien durch einen Volkspolizisten.
Ostkreuz, Fotograf: Herald Hauswald
Zu sehen im Stasi-Museum Berlin.